Leseprobe "Brief über Chopin"
Heinrich Heine. Im gleichen Jahr wie Chopin (1831) kam
auch Heine nach Paris, um dort zu leben und zu sterben. Sie befreundeten
sich ein bißchen und kommunizierten miteinander (in den 30er Jahren
mehr als in den 40er Jahren). Sieben Jahre nach Chopin starb Heine (1856).
Im Laufe der Jahre wallfahrte ich sowohl zum Grab von Chopin als auch
zum Grab von Heine.
Bis zum Jahre 1978 wußte man nicht, was Chopin über seinen
Kumpan Heine gedacht hatte. In diesem Jahr wurden die gegen Ende des 19.
Jahrhunderts niedergeschriebenen Erinnerungen von Solange, der Tochter
George Sands, veröffentlicht (ich hatte sie dir schon mehrfach empfohlen),
und seitdem ist bekannt, wie Chopin über Heine urteilte: der Zynismus
Heines stieß ihn ab, aber seine köstlichen Gedichte bezauberten
ihn, und sein diabolischer Witz belustigte ihn. Nach dem Eindruck Solanges
stand Chopin zu Heine genau umgekehrt wie zu Delacroix den Menschen
Delacroix liebte er, doch mit dessen Werken konnte er nichts anfangen,
während er Heines Talent und Werk anerkannte, jedoch den Menschen
Heine eher abstoßend fand. Nachlesen kannst du das auf Französisch
in dem Text von 1978 (Solange Clésinger, Frédéric
Chopin, Souvenirs inédits, Revue musicale de Suisse romande, 31.
Jg, Nr. 5/1978, S. 228).
Franz Liszt, der Heine den melancholischsten aller Humoristen nannte,
hat der Kommunikation zwischen Chopin und Heine in seinem Chopinbuch gleich
mehrere Seiten gewidmet (Franz Liszt, Gesammelte Schriften I, Hildesheim
1978, S. 103-106), aus denen ich zwei zentrale Passagen anführen
möchte: Chopin spielte bei einer Abendgesellschaft auf seinem Pleyelflügcl,
und Heine lauschte "Chopins Erzählungen über das geheimnisvolle
Land, in dem auch seine ätherische Phantasie gern verweilte und dessen
liebliche Gefilde sie durchstreift hatte. Chopin und er verstanden sich
mit wenig Worten und Tönen. Der Musiker beantwortete in seiner Sprache
die leise gestellten Fragen des Dichters ... Da Heine Chopin häufig
von seinen Streifereien im übernatürlichen Reich der Poesie
unterhielt, wiederholte uns dieser seine Gespräche und Schilderungen,
offenbarte uns das Vernommene, und Heine ließ ihn gewähren
und vergaß unsere Gegenwart, während er ihm lauschte".
Dieser Bericht ist gewiß etwas idealisiert; der abstoßende
Zynismus Heines, den Solange herausgehoben hat, kommt bei Liszt nicht
vor; dafür enthält Liszts Darstellung manche Züge, die
offenkundig Solange entgangen sind.
Seit langem bekannt ist, wie Heine über Chopin dachte. In Briefen,
Gesprächen und Presseartikeln ist uns das überliefert worden.
Was Heine in Briefen und Gesprächen über George Sands Roman
"Lucrezia Floriani" und über den wenig später einsetzenden
Bruch zwischen George Sand und Chopin äußerte, möchte
ich nur kurz erwähnen: George Sand habe seinem Freund Chopin in diesem
Roman übel mitgespielt, und es sei unwürdig von ihr gewesen,
den schwerkranken und dem Tode nahen Chopin zu verlassen. Dies sind Äußerungen
aus der Erregung des Augenblicks, und so etwas soll man nicht kommentieren.
Erwähnenswert aus den "Begegnungen mit Heine" (hrsg. Michael
Werner, 2 Bände, Hamburg 1973) ist ferner Heines liebevolle Gesprächsäußerung
über Chopin aus der Zeit vor dem Bruch mit George Sand: "Chopin,
der Klaviervirtuos, ein liebenswürdiger Mann, dünn, schmal,
vergeistigt wie ein deutscher Poet aus der Trösteinsamkeit"
(Bd. 1, S. 427).
In seinen Publikationen stehen Heines entscheidende Urteile über
das Genie Chopin. Gesammelt sind sie in dem Band "Heinrich Heine
und die Musik, Publizistische Arbeiten und poetische Reflexionen"
(hrsg. Gerhard Müller, Köln 1987) und in seinen "Sämtlichen
Schriften in zwölf Bänden" (hrsg. Klaus Briegleb, München
1976). Beide Ausgaben ergänzen sich, indem jeweils die eine etwas
enthält, was in der anderen fehlt. Besonders der wenig bekannte Kölner
Band ist zu empfehlen. Über den Bruch zwischen George Sand und Chopin
schreibt Heine mit dein ihm eigenen Zynismus (in seinen Briefen und Gesprächen
äußerte er sich zu diesem Punkt weniger zynisch): "Mit
weit weltlicheren Funktionen hatte George Sand unseren vielgeliebten Frédéric
Chopin betraut. Dieser große Musiker und Pianist war während
langer Zeit ihr Cavaliere servente; vor seinem Tode entließ sie
ihn; sein Amt war freilich in der letzten Zeit eine Sinekure geworden"
(Sämtliche Schriften, Bd.9, S.264).
In seinem Werk "Über die französische Bühne"
(Zehnter Brief) hat Heine seinem Freund Chopin ein achtungsvolles Denkmal
errichtet: "Es wäre ungerecht, wenn ich bei dieser Gelegenheit
nicht eines Pianisten erwähnen wollte, der neben Liszt am meisten
gefeiert wird. Es ist Chopin, der nicht bloß als Virtuose durch
technische Vollendung glänzt, sondern auch als Komponist das Höchste
leistet. Das ist ein Mensch von erstem Range" (Heinrich Heine und
die Musik, S. 106 f). Ergänzend dazu eine Passage aus dem Zeitungserstdruck:
"... dieser (= Chopin) kann zugleich als Beispiel dienen, wie es
einem außerordentlichen Menschen nicht genügt, in der technischen
Vollendung mit den Besten seines Faches rivalisieren zu können. Chopin
ist nicht damit zufrieden, daß seine Hände ob ihrer Fertigkeit
von anderen Händen beifällig beklatscht werden; er strebt nach
einem besseren Lorbeer, seine Finger sind nur die Diener seiner Seele,
und diese wird applaudiert von Leuten, die nicht bloß mit den Ohren
hören, sondern auch mit der Seele" (Heinrich Heine und die Musik,
S. 109).
Weiter im Text der Buchfassung: "Chopin ist der Liebling jener Elite,
die in der Musik die höchsten Geistesgenüsse sucht. Sein Ruhm
ist aristokratischer Art, er ist parfümiert von den Lobsprüchen
der guten Gesellschaft, er ist vornehm wie seine Person" (Heinrich
Heine und die Musik, S. 107). Es folgt ein Satz, den Heine schlecht recherchiert
hat und der auch sogleich den Widerspruch seiner Zeitgenossen herausforderte:
"Chopin ist von französischen Eltern in Polen geboren und hat
einen Teil seiner Erziehung in Deutschland genossen" (Heinrich Heine
und die Musik, S. 107). Nur Chopins Vater war Franzose, seine Mutter war
Polin. Deutschland hat Chopin mehrfach besucht, und seine beiden Hauptlehrer
in der Musik (Zywny und Elsner) kamen aus der deutschen Tradition, aber
deswegen kann man noch lange nicht behaupten, daß er einen Teil
seiner Erziehung in Deutschland genossen hat.
Fortsetzung aus dem Text der Buchausgabe: "Diese Einflüsse dreier
Nationalitäten machen seine Persönlichkeit zu einer höchst
merkwürdigen Erscheinung; er hat sich nämlich das Beste angeeignet,
wodurch sich die drei Völker auszeichnen: Polen gab ihm seinen chevaleresken
Sinn und seinen geschichtlichen Schmerz, Frankreich gab ihm seine leichte
Anmut, seine Grazie, Deutschland gab ihm den romantischen Tiefsinn ..."
(Heinrich Heine und die Musik, S. 107). In dieser Nationalitätenanalyse
fehlt das vierte Element, das italienische. Ohne die italienische Belcantotradition
ist Chopins Musik undenkbar und unfühlbar. Nicht drei, sondern vier
Nationalitäten trugen zur Formation von Chopins musikalischer Persönlichkeit
bei.
Nun die allerschönste und kongenialste von Heines Chopinreflexionen:
"Die Natur aber gab ihm eine zierliche, schlanke, etwas schmächtige
Gestalt, das edelste Herz und das Genie. Ja, dem Chopin muß man
Genie zusprechen, in der vollen Bedeutung des Wortes; er ist nicht bloß
Virtuose, er ist auch Poet, er kann uns die Poesie, die in seiner Seele
lebt, zur Anschauung bringen, er ist Tondichter, und nichts gleicht dem
Genuß, den er uns verschafft, wenn er am Klavier sitzt und improvisiert.
Er ist alsdann weder Pole noch Franzose noch Deutscher, er verrät
dann einen weit höheren Ursprung, man merkt alsdann, er stammt aus
dem Lande Mozarts, Raffaels, Goethes, sein wahres Vaterland ist das Traumreich
der Poesie. Wenn er am Klavier sitzt und improvisiert, ist es mir, als
besuche mich ein Landsmann aus der geliebten Heimat und erzähle mir
die kuriosesten Dinge, die während meiner Abwesenheit dort passiert
sind ..." (Heinrich Heine und die Musik, S. 107).
Ich hatte bei Balzac, dem größten französischen Schriftsteller
der Chopinschen Epoche, alle seine Äußerungen über Chopin
so ausführlich wie möglich zu dokumentieren versucht. Dasselbe
möchte ich auch in dem Abschnitt über den größten
deutschen Schriftsteller der Chopinschen Epoche tun. Ganz ähnlich
wie Balzac, der Chopins Musik als "raffaelesk" bezeichnete,
nannte Heine Chopin den "Raffael des Fortepianos" (Heinrich
Heine und die Musik, S. 119). In meinem Lisztabschnitt hatte ich die ganze
Passage, aus der diese Metapher stammt, bereits zitiert.
Noch ein wunderschöner Textabschnitt über den musikalischen
Raffael: "... Chopin, der ... viel mehr Komponist als Virtuose ist.
Bei Chopin vergesse ich ganz die Meisterschaft des Klavierspiels und versinke
in die süßen Abgründe seiner Musik, in die schmerzliche
Lieblichkeit seiner ebenso tiefen wie zarten Schöpfungen. Chopin
ist der große geniale Tondichter, den man eigentlich nur in Gesellschaft
von Mozart oder Beethoven oder Rossini stellen sollte" (Heinrich
Heine und die Musik, S. 146). Dazu gibt es noch einen vierten Komponistennamen
in einer Variante aus dem Zeitungserstdruck: "Meyerbeer" (Heinrich
Heine und die Musik, S. 151). Später wandte sich Heine gegen Meyerbeer
und strich seinen Namen aus der Gesellschaft von Mozart, Beethoven und
Rossini.
Zum Abschluß eine aufschlußreiche Notiz Heines aus dem magischen
Jahr 1844. Am 25. April 1844 schreibt Heine in Paris: "... Chopin,
der holdselige Tondichter, der aber leider auch diesen Winter sehr krank
und wenig sichtbar war..." (Heinrich Heine und die Musik, S. 154).
Diese Notiz hilft erklären, warum ein junger Deutscher, den Heine
als den "entschiedensten und geistreichsten" (Sämtliche
Schriften, Bd. 9, S. 466) seiner in Frankreich weilenden Landsleute rühmte,
den Tondichter Chopin im magischen Jahr 1844 vermutlich nicht zu sehen
bekam.
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